Mann- und Frausein im 21. Jhd.

Individuelle Stärke statt starre Rollenbilder

Theologenehepaar Silke und Mathis Sieber
Das Theologenehepaar Silke und Mathis Sieber richtet sich an Menschen, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren, von gesellschaftlichen Trends und Gedanken aber verunsichert werden. Ihnen wollen sie Hilfestellung bieten.

Silke Sieber ist Co-Geschäftsführerin beim Bibellesebund Schweiz, Mathis Gemeindeleiter von precious.ch und betreibt den YouTube- und Spotify-Kanal «glaubhaft». Beide haben sich in den vergangenen Jahren durch ihre gemeinsame Biografie und ihre theologischen Studien intensiv mit Geschlechterfragen auseinandergesetzt. Im Interview teilen sie etwas von dem, was sie dabei gelernt haben.

An der Culture Shift Konferenz vom 7. und 8. Juni werdet ihr als Ehepaar ein Seminar über Geschlechterfragen und Rollenbilder halten. An welche Personengruppe richtet ihr euch dabei?
Mathis Sieber: Lange herrschten sehr starre Rollenbilder. Es war klar, was ein Geschlecht charakterisiert und welche Rolle damit zusammenhängt. Heute ist es aber fast so, dass die Abweichung zur Norm wird – zumindest medial. Dabei gibt es noch immer sehr viele Menschen, die sich mit ihrem Geschlecht wohl fühlen und darin zur Entfaltung kommen möchten. Diese Menschen stehen in unserem Fokus.
Silke Sieber: Wir merken, dass auch in christlichen Kreisen Verunsicherung herrscht. Alte Rollenbilder passen nicht mehr, trotzdem möchten junge Christeninnen und Christen authentisch den biblisch-christlichen Glauben leben – das führt uns zu den Fragen, die wir thematisieren möchten.

Lohnt es sich, an den traditionellen Rollenbildern festzuhalten?
S
ilke: Vieles an den christlichen Rollenbildern ist traditionell, aber nicht alles ist biblisch. Es lohnt sich hier genauer hinzusehen und zu differenzieren. Es ist unser Anliegen, dass Männer wie Frauen ihre Stärken entdecken. Das ist eine sehr individuelle Sache. Wenn wir erleben wollen, wie wertvoll echte Ergänzung sein kann, dürfen wir uns nicht von fixen Rollen oder Klischees beschränken lassen.

Als wie relevant erachtet ihr die Bibel in Bezug auf die heutigen Geschlechterfragen?
Silke: Für uns ist die Bibel Gottes Wort. Wir glauben, dass sie ein inspirierender und freisetzender Leitfaden für menschliches Leben ist und, dass sie für jede Zeit Relevanz hat. Sie begründet den Wert und die Würde jedes Menschen auf vergleichslose Art und Weise. Die Guidelines der Bibel sollen einen Rahmen abstecken, indem Leben auf seine eigentlichste und innige Art erlebt wird (3. Mose, Kapitel 18, Vers 5; Apostelgeschichte, Kapitel 7, Vers 38).
Mathis: Dass biblische Ansichten dabei mit dem modernen Geschlechterverständnis kollidieren, ist kein Geheimnis. Wir sind nicht der Meinung, dass man irgendjemandem das biblische Geschlechterverständnis aufzwingen muss. Unser Anliegen ist es, die biblische Idee von Mann- und Frausein den Menschen verständlich und zugänglich zu machen, die darin Weisheit entdecken möchten. Der mediale Fokus rückt vor allem die «neuen Geschlechter» ins Licht der Aufmerksamkeit. Daneben gibt es noch immer unzählige Menschen, die Frau- und Mannsein in einem klassischen Sinn erleben und leben möchte.

Ihr habt einen breiten theologischen Hintergrund. Welche Auswirkungen hat dies in eurer Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen?
Mathis:
Theologisch breit zu denken gehört zu unserer DNA. Wir kennen das weite Spektrum der Theologie – von konservativ bis liberal. Unser Anliegen ist, erst einmal gründlich biblisch-exegetisch zu arbeiten; dann verschiedene Ansichten nebeneinander zu stellen, Entwicklungen aufzuzeigen, Prägungen und Traditionen einzuordnen. So versuchen wir mit Menschen und ihren Glaubensfragen unterwegs zu sein, damit reflektierte, aber auch plausible Positionen entstehen, für die wir dann sprachfähig sind; selbst dann, wenn sie zeitgenössischen Trends widersprechen.
Silke: Es sollte das Ziel von Kirche und Gemeinde sein, Menschen auf dem Weg zu reflektierten Überzeugungen zu begleiten. Die Zeit der plakativen schwarz-weiss Antworten ist vorbei. Viele möchten keine starre «(Geschlechter-)Rolle» mehr erfüllen. Vielmehr begegne ich Menschen, denen es neu wichtig ist, ihren Glauben authentisch zu leben. Das ist grossartig, denn wenn wir unsere Stärken entdecken und einsetzen, macht es unseren Glauben kraftvoll in allen Lebensbereichen – Ehe, Familie, Kirche, Job, usw.

Was ist Gottes Absicht in einem gemeinsamen Unterwegssein der Geschlechter? Wie würdet ihr dies in wenigen Worten beschreiben?
Silke:
Gott offenbart seine Absicht in den ersten Zeilen der Bibel. Den Auftrag, den Gott in der Schöpfungserzählung gibt, ergeht an beide Geschlechter (1. Mose, Kapitel 1, Vers 28). In ihrer Unterschiedlichkeit liegt die Ergänzung und nur gemeinsam können wir diesem Auftrag erfüllen.
Mathis: Auch im Neuen Testament, sowohl bei Jesus als auch bei Paulus, sehen wir ein Zusammenspiel von Mann und Frau, dass sich von den Gewohnheiten der damaligen Kulturen sehr entschieden abhebt. In unserem Seminar «FE-MALE – die Stärken des Geschlechts entdecken und leben» werden wir in einige biblische Texte eintauchen. Besonders Paulus überrascht, da er in Bezug auf die Frauen Stärken- und nicht Rollen- oder Ämterkonform argumentiert.

Ihr habt die Bibel durchforscht, um zu lernen, wie Gott die Geschlechter sieht. Gibt es einen besonderen Text, der eure Sichtweise geprägt hat?
Mathis:
Zum einen ist das die Schöpfungsgeschichte und die darin erst in jüngster theologischer Forschung entdeckten Implikationen, wie Frau und Mann bzw. Adam und Eva gedeutet werden. Zum anderen habe ich mich intensiv mit dem locus classicus bei Paulus über die sogenannte «Frauenfrage» auseinandergesetzt (1. Timotheus, Kapitel 2, Verse 11-15). Der Ertrag davon ist letztes Jahr in meinem Buch «preach it – Warum Frauen predigen» erschienen.

Wie lebt ihr die Rollen in eurer Ehe?
Silke:
Wir haben keine klassischen Rollen, vielmehr haben wir uns von Anfang an als Team verstanden. Uns ist es wichtig, uns gegenseitig die Möglichkeit zu geben, unsere «Berufung» zu leben. Was im christlichen Setting für Männer meist problemlos geht, müssen sich Frauen oft erkämpfen. Nicht jede Frau hat den Wunsch, auch ausser Haus zu arbeiten, das ist absolut gut so. Für mich jedoch war es wichtig und so haben wir Arbeit und Familienverantwortung von Anfang an geteilt. Manchmal ergeben sich daraus Aufgabenverteilungen im ganz klassischen Stil und manchmal andere. Beides ist absolut ok – solange es für beide stimmt! So habe ich alle unsere Kinder gestillt (Augenzwinker) und Mathis ist der Putzchef des Hauses geworden.
Mathis: Wichtig war uns dabei immer, dass unsere gemeinsame Berufstätigkeit nicht zulasten der Kinder geht. So arbeiten wir beide in einem reduzierten Pensum und betreuen unsere drei Kinder selbst.

Wie bewertet ihr die aktuelle Geschlechterdiskussion? Setzt ihr einen Gegenpol oder wollt ihr davon lernen?
Mathis: Wir betonen in unserem Ansatz die Stärken und die Plausibilität von einem Mann- und Frausein im klassischen Sinn, so wie sich nach wie vor noch viele Menschen damit identifizieren. Die aktuelle Geschlechterdiskussion tangiert unser Thema nur sehr dezent. Grundsätzlich aber sind wir der Überzeugung, dass in allen ernsthaft diskutierten und profilierten Positionen Erkenntnisse zu gewinnen sind, selbst dann, wenn man sich anderswo zu verorten pflegt. Ganz im Sinne der alten biblischen Weisheit: Prüft alles, das Gute behaltet!

Weitere Informationen zur Culture Shift Konferenz und Möglichkeit zum Anmelden finden sich hier.

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Datum: 24.04.2024
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet

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